Der Tag, an dem Zeiters nach Lohne kommen

Yahya Zeiter kämpft um seine Familie

By In Familie, Integration

Yahya Zeiter hat eine abenteuerliche Flucht vor dem Bürgerkrieg in Syrien hinter sich. Als er in Deutschland angekommen ist, kämpft er um seine Familie.

Es gibt Tage, die Menschen nicht mehr vergessen. Und wenn sie noch Jahre später das genaue Datum kennen, dann wird klar, wie sehr dieser Tag sie geprägt hat. Für Yahya Zeiter war das der Dezember 2017. Der Syrer geht auf der Ankunftsebene im Hamburger Flughafen auf und ab. „Sitzt die Krawatte?“, fragt er seinen Freund, Christian Gerdes.

Es sind nur wenige Minuten, die Yahya Zeiter warten muss, und sie kommen ihm doch so lang vor. Dabei hat er schon zweieinhalb Jahre gewartet auf diesen einen Augenblick. Dafür ist er im Jahr 2015 im Libanon aufgebrochen, ist hunderte von Kilometern marschiert und hat mehrmals sein Leben riskiert. Er hat viel Geld an dubiose Menschen gezahlt, die ihm dann doch nicht halfen. Er hat sich in Lohne einen Job gesucht und ein Haus gemietet. Er hat viel gearbeitet und nebenbei Deutsch gelernt, damit sie ihn verstehen auf der Baustelle. Alles für diesen einen Augenblick.


Die automatische Schiebetür öffnet sich und die ersten Passagiere des Fluges von Beirut kommen mit vollen Gepäckwagen aus dem Zollbereich heraus. Yahya Zeiters Herz schlägt jetzt bis hinauf zum Hals, als endlich seine Frau und seine vier Kinder durch die Tür treten. Weit kommen sie nicht. Yahya Zeiter nimmt sie alle in den Arm, seine geliebte Khloud, Sohn Yazan und seine drei Töchter, Gina, Hala und natürlich die dreijährige Amira, die ihren Vater nur von Videotelefonaten her kennt.

Auf der Fahrt nach Lohne in dem gemieteten Bulli sind alle fröhlich. Das Haus aus den 1970er Jahren hat Zeiter geschmückt. Er hat syrisches Gebäck gebacken. Alles soll perfekt sein, wenn seine Familie in ihr neues Leben startet. In ein Leben ohne Krieg und ohne Diskriminierung. Im Jahr 2011 bricht in Syrien ein Bürgerkrieg aus. Die bewaffnete Auseinandersetzung fordert mehr als eine halbe Million Opfer. Rund 13 Millionen Syrer sind auf der Flucht, die Hälfte von ihnen verlässt das Land auf der Suche nach einem besseren Leben. Die Vereinten Nationen bezeichnen die durch den Krieg ausgelöste Flüchtlingskrise als die schlimmste seit dem Völkermord in Ruanda in den 1990er-Jahren.

Yahya Zeiters Familie besitzt in der Großstadt Idlib im Nordwesten des Landes ein Tiefbauunternehmen mit 60 Mitarbeitern. Zeiter lässt Straßen und Kanäle bauen. Doch mit Kriegsbeginn ist damit Schluss. Die Zeiters fliehen in den benachbarten Libanon, lassen die Firma und Hab und Gut zurück. Yahya Zeiter schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Sohn Yazan schicken sie auf eine Privatschule, weil andere Schulen den Sohn nicht annehmen. Doch die kostet 4500 Dollar im Jahr. Die Mädchen dürfen überhaupt nicht zur Schule.

Keine Perspektive im Libanon

Zeiters fühlen sich diskriminiert, sehen keine Zukunft mehr für sich im Libanon. Zurück nach Syrien wollen sie auch nicht mehr. Inzwischen wurde Idlib von einer islamistischen Rebellenallianz eingenommen, Yahyas jüngerer Bruder bei den Kämpfen ermordet. Das war am 12. September 2012. Abschied von ihm konnte er nicht nehmen. Als einzige Erinnerung an seinen Tod bleibt ihm das Datum.

Die Familie beschließt im Jahr 2015, nach Europa zu fliehen – wie so viele andere Menschen aus Syrien und dem Irak. Weil der lange Weg für die Kinder zu gefährlich erscheint, geht Yahya Zeiter allein – und plant, seine Familie nachzuholen. Zunächst geht es per Flugzeug in die Türkei. Es folgt der gefährlichste Part: über das Mittelmeer nach Griechenland. Dafür bezahlt er einem Schleuser mehr als 1000 Euro – für die Überfahrt mit 65 anderen Menschen in einem Schlauchboot. Der erste Versuch scheitert schon nach wenigen Minuten. Das Boot touchiert einen Felsen und sinkt. „Wir mussten stundenlang mit nassen Klamotten im kalten Wasser zurückschwimmen“, erinnert sich Zeiter. Ein Kind schafft es nicht und ertrinkt.

Nirgendwo sind Flüchtlinge willkommen

Der zweite Versuch mit einem neuen Boot gelingt schließlich, und Yahya Zeiter fällt ein Stein vom Herzen, als er griechischen Boden betritt. Von dort beginnt der lange Fußmarsch über den Balkan in einem langen Treck mit zehntausenden Geflüchteten. Im Gepäck immer die Angst, dass er nachts überfallen oder beraubt wird. Zudem gehen die Polizisten mit den Flüchtlingen nicht zimperlich um, immer wieder werden Menschen verprügelt und gedemütigt, wie Zeiter mit eigenen Augen mit ansehen muss. Nein, willkommen sind sie in diesen Ländern nicht.

Von Ungarn aus geht es mit dem Zug weiter nach Österreich. Am 15. September 2015 betritt Yahya Zeiter deutschen Boden. Immerhin muss er nicht mehr draußen übernachten. Aber in den Turnhallen, die zu Auffanglagern umfunktioniert wurden, findet er keinen Schlaf, immer in Angst um das bisschen Geld und seine Papiere.

In Syrien gehörte Yahya Zeiter eine ganze Baufirma. In Deutschland ist er nun Baggerfahrer. Und glücklich. Foto: Stefan Freiwald


Nach vier Lagern in Deutschlands findet er schließlich Arbeit bei einem Bauunternehmen in Lohne als Baggerfahrer. Er lernt schnell die Sprache, auch ohne viele Deutschkurse. Er absolviert Qualifikationen, um in Deutschland mit einem großen Bagger arbeiten zu können. „Ich weiß jetzt, wo das Starkstromkabel liegt“, sagt der 39-Jährige und lacht. Auf der Arbeit hat er einmal erzählt, dass sein Vorname ins Deutsche übersetzt Johannes heißt. Seitdem nennen sie ihn so.

„Johannes“ Zeiter mietet ein Haus auf dem Wichel, organisiert Möbel, richtet alles ein für den Augenblick, wenn seine Familie nachkommt. Doch der Antrag auf Nachzug dauert. „Ich hatte kein Geld mehr, um die Visa von der libanesischen Botschaft schneller zu bekommen“, sagt er. Das ganze Geld ist für seine Flucht draufgegangen. Und so zieht sich das Prozedere. Zweieinhalb Jahre später erhält er endlich die erlösende Nachricht aus dem Libanon. Wenige Tage später holt er seine Familie vom Flughafen in Hamburg ab.

Sein Chef ist so zufrieden mit Zeiter, dass er ihm ein eigenes Kennzeichen für den Bagger gewidmet hat.

Wenn er jetzt das Video sieht, das einer seiner Freunde am Flughafen gedreht, geschnitten und mit Pianomusik und arabischen Klängen unterlegt hat, kommen ihm die Tränen. Obwohl er ihn oft sieht, jenen vier Minuten langen Film vom 16. Dezember 2017, dem Tag, an dem das Leben für seine Familie neu begann.

„Wir haben so viel Hilfe in Lohne bekommen.“

Yahya Zeiter


„Wir haben so viel Hilfe bekommen in Lohne“, sagt er mit zittriger Stimme. Vor allem der Runde Tisch Lohne für Integration und Völkerverständigung habe dafür gesorgt, dass er und viele andere Flüchtlinge gut integriert wurden. Ursula Große Holthaus und Andreas Henning vom Runden Tisch, Hauspate Christian Gerdes und die ehemalige Lehrerin Rita Sieverding hätten von Anfang an geholfen, egal ob es um den richtigen Sprachkurs im Ludgerus-Werk, die Suche nach einem Haus und die Schule für die Kinder gegangen sei. „Als er noch in dem Container gewohnt hat, kam er mir immer entgegen und flehte mich an, dass wir seine Familie nach Deutschland holen“, erinnert sich Ursula Große Holthaus. Die Hartnäckigkeit zahlt sich aus.

Khloud Zeiter kocht gerne Gerichte aus Syrien. Die Kinder lieben ihr Essen. Vielleicht macht sie ja demnächst ein Restaurant auf?! Foto: Stefan Freiwald


Während sich der 14-jährige Yazan noch dunkel an die alte Heimat erinnert, kennen seine Schwestern nur das Leben in Deutschland. Yazan geht auf die Realschule und möchte später mal Häuser planen. „Ich habe gerade eine Eins im Diktat geschrieben“, sagt die neunjährige Gina. Schwester Hala (8) ist stolz auf ihre Mathenote. Sie mag das deutsche Wasser – so nennt sie das Mineralwasser mit Kohlensäure – so gerne. Die Geschwister haben viele Freunde, die besonders gerne zum Essen zu den Zeiters kommen.

Das muss wohl an den Kochkünsten von Mutter Khloud liegen. Die 40-Jährige absolviert gerade einen Deutschkurs im Ludgerus-Werk, nachdem sie monatelang wegen einer ernsten Krankheit das Haus nicht verlassen konnte. Jetzt will auch sie durchstarten. Sie möchte mit Ursula Große Holthaus und den anderen Frauen des Internationalen Frauentreffs ein Kochbuch schreiben mit typisch deutschen und typisch arabischen Rezepten. Vielleicht macht sie dann einen Lieferdienst auf oder sogar eine Gaststätte. „Wir machen das Schritt für Schritt“, sagt ihr Mann. Aber falls sie tatsächlich bald in Lohne ein syrisches Restaurant eröffnen – Yahya Zeiter hätte ein weiteres Datum, das
er nicht wieder vergisst.

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